»Reifezeugnis«

Der Zahn der Zeit hat richtig Appetit.

Sina und ihre Mutter
Sina und ihre Mutter auf der Sonnenterrasse der Villa (Szenenfoto aus tatort »Reifezeugnis« (C) NDR)

Wohl kaum ein zweiter tatort hat für so viel Aufsehen gesorgt wie »Reifezeugnis«. Der Plot ist unlängst zu Allgemeinwissen geworden, die Darstellerinnen und Darsteller zählten auch Jahre danach zu den gefragtesten Mitgliedern ihrer Zunft.

Aber nicht nur das Drehbuch und die überzeugende Darstellung unter Wolfgang Petersens Regie machten diese Episode zu einem solchen Erfolg: es wurde eine ganz besondere Stimmung transportiert. Untermalt von einer erstklassigen Filmmusik von Nils Sustrate zeigte Petersen großartige Bilder. Die einzigartige Landschaft Ostholsteins, das imposante Schulgebäude in Eutin und nicht zuletzt die Villa der Familie Wolf, in der »Sina« mit ihren Eltern lebt.

Als ich »Reifezeugnis« das erste Mal gesehen habe, wußte ich nicht, was ein größerer Eye-Catcher war: Nastasja Kinski oder diese im Stil der »Mid Century«-Architektur mit Anlehnungen an den Chic des biederen Nachkriegsdeutschlands (»Gelsenkirchener Barock«) gebaute Villa.

Im laufe der Jahre wurde mir klar: Nastasja ist unerreichbar, die Villa kann ich finden und sie mir ansehen.

Im Jahr 2010 fuhr ich das erste Mal nach Bosau an den großen Plöner See. In diesem Ort konnte man zwei Strömungen erkennen: den verblichenen Glanz längst vergangener Tage und den Drang, dieses verschlafene Nest wieder zu erwecken und die Schönheit der Umgebung wieder zu würdigen.

Es dauerte nicht lange, bis wir an der Stadtbeker Straße die Nummer 79 entdeckten: die Hofeinfahrt, die betonierte Auffahrt und die Sonnenterrasse waren unverkennbar: das ist die »Wolf’sche Villa« aus Reifezeugnis. Das Haus wirkte – vorsichtig formuliert – »in die Jahre gekommen«, es schien aber so zu sein, dass es noch bewohnt wurde. Wir wollten allerdings nicht so dreist sein, zu klingeln – nicht zuletzt weil wir befürchteten, die X-ten Neugierigen zu sein.

Hofeinfahrt 2014
Stadtbeker Straße 79, Bosau (Sommer 2014)
Hofeinfahrt Villa-Wolf
Dieselbe Auffahrt als Szene aus dem tatort (Szenenfoto aus tatort »Reifezeugnis« (C) NDR)

Wir fuhren davon, fanden wenig später die Schule in Eutin und das Wohnhaus des Ehepaars Fichte – ebenfalls in Eutin.
Lange Zeit suchten wir nach weiteren Drehorten aus den Finke-tatorten und hatten Bosau schon aus dem Gedächtnis gestrichen, als plötzlich eine zufällig entdeckte Immobilienanzeige meine Neugierde weckte: »Villa mit Seeblick in Bosau zu verkaufen« – dazu gab es ein paar Fotos, die keine Zweifel ließen: es handelte sich um die Villa aus »Reifezeugnis«.

Mit Co-Ermittler und ich stimmten uns ab: Kontakt aufnehmen und unser eigentliches Ansinnen offenbaren, oder uns als Interessenten ausgeben und die Villa besichtigen?

Uns erschien die Gefahr, als neugierige tatort-Fans abgewiesen zu groß, also entschieden wir uns für die Alternative.

Es war ein sonniger Juni-Samstag im Jahr 2014. Wir erreichten am späten Vormittag Bosau und fuhren – nicht ganz standesgemäß mit einem Volkswagen – auf die Auffahrt der Villa.

Der erste Eindruck war eine Mischung aus traurig oder ernüchternd: der Garten war verwildert, schon an der auf Straßen-Ebene befindlichen Garage war ein Instandhaltungsstau nicht zu übersehen.

Die Rampe zur Wohnebene: zu schmal für einen modernen wagen, zu steil fürs Fahrrad.

Wir erklommen die Rampe zum Eingang hinauf und wurden vom Eigentümer-Paar freundlich begrüßt.

Man führte uns durch den rückseitig gelegenen Eingang in die Villa. Zunächst stand man in einer Art Treppenhaus, von dem aus man die unten am Hang liegenden weiteren Geschosse erreichen konnte. Das eigentliche Highlight war aber nur wenige Schritte nach rechts entfernt: das riesige Wohnzimmer mit der Panoram-Scheibe und dem Seeblick.

Schon die Griffplatte der Eingangstür ließ erahnen: hier legte man Wert auf individuelle Details
Der Eingang in die Villa. Die Treppe führt hinunter zur zweiten Wohnebene und dem Schwimmbad
Andere Perspektive
Room with a view: großes Wohnzimmer mit Blick auf den großen Plöner See
Der Sandstein des Fußbodens war original, die Fliesen vor dem Kamin ebenfalls. Lediglich das ehemals beige-gelbe Verblendmauerwerk um den Kamin herum wurde weiß übergestrichen
Christian Quadflieg und Nastasja Kinski im tatort Reifezeugnis
(Szenenfoto aus tatort »Reifezeugnis« (C) NDR)

Sofort sah man Sina mit ihrem sichtlich beeindruckten Lehrer Fichte vor dem Fenster stehen (»Schön habt ihr es hier!«), man sieht die gedeckte Kaffeetafel oder Sina mit dem Hörer des grauen »FeTap 611«, wie sie den Scherzanruf ihrer beiden Klassenkameradinnen entgegen nimmt.

Sina mit Telefonhörer
Sina mit dem klobigen Hörer des Fernsprech-Tisch-Apparats 611 (Szenenfoto aus tatort »Reifezeugnis« (C) NDR)

Was man leider auch sofort sieht: hier wurde über viele Jahre an der Instandhaltung gespart.

Die Gründe dafür lieferte das Eigentümer-Paar ungefragt: Die Unterhaltskosten des Hauses sind immens. Die großen Fensterfronten sind einfach verglast, die Scheiben stehen in Stahlrahmen. Das Flachdach ist nicht wirklich isoliert, und zu allem Überfluss wurde – um den Anblick von Heizkörpern zu vermeiden – eine Deckenheizung verbaut, wie sie in den 1970er Jahren gerade in Mode gekommen war. Diese technischen Voraussetzungen und die schier unendlichen 400qm Wohnfläche ließen auch für die gut situierten Eigentümer nur eine Strategie zu: man bewohnt das Haus, macht das nötigste und erfreut sich an dem Ausblick.

Nun, da beide auf den Ruhestand zugingen und die Kinder längst aus dem Haus waren, wollte man sich verkleinern.

Wir durften uns ausgiebig umsehen und trauten unseren Augen kaum: Sinas Zimmer, die Küche, die Terrasse: all das war wie im tatort. Was man im tatort nicht gesehen hat: das Schwimmbad, den Sauna-Bereich und die ganze untere Ebene.

Das Schwimmbad im Untergeschoss: Kunst am Bau
Ein weiteres Mosaik im Schwimmbad
Zimmer auf der unteren Ebene

Als wir uns die Terrasse ansahen wurde uns dann noch eine Geräteraum gezeigt, in dem tatsächlich die original Küche aus dem tatort ihre Zweitverwendung gefunden hat.

Die originale Küche aus dem tatort wurde irgendwann in den Geräteraum verbannt
Sina in der Küche
Die Küchen-Szene aus dem tatort (Szenenfoto aus tatort »Reifezeugnis« (C) NDR)

Nach rund einstündiger Besichtigung verließen wir das Verkäufer-Paar und waren uns einig: wir werden noch schnell einen Lottoschein abgeben, wenn wir einen »Sechser« holen investieren wir die 800.000 Euro und machen ein tatort-Museum aus der Villa.

Leider wurde nichts aus dem Lotto-Glück.
Die Verkäufer hatten scheinbar auch kein Glück beim Verkauf der Immobilie. Erst vier Jahre später berichteten die regionalen Medien davon, dass die »tatort-Villa« in Bosau verkauft wurde und nun zugunsten eines Neubauprojekts abgerissen werden soll. Schade.

Bericht des SHZ zum Abriß der Villa (kostenpflichtiger Abruf)

Bericht der Kieler-Nachrichten (kostenloser Abruf)

Bildergalerie der Lübecker-Nachrichten mit Fotos vor dem Abriss, während des Abbruchs und danach (kostenloser Abruf)